Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2022 an die Französin Annie Ernaux war eine Überraschung, obwohl sie schon seit Längerem international bekannt ist.
Annie Ernaux stammt aus dem Milieu der „classes populaires“, der sozialen Unterklassen. Diese Herkunft stellt das zentrale Thema ihres literarischen Werks dar. Mit ihm setzt sie sich aus einer doppelten Erfahrungsperspektive auseinander, nämlich sowohl als Angehörige der unteren Klassen als auch als Mädchen und Frau. Der Versuch, sich aus dem Herkunftsmilieu zu befreien, bleibt von dessen Realität und der sie prägenden Unterdrückung, Demütigung und Ausgrenzung überschattet. Besonders in „Die Jahre“ („Les années“), ihrem wohl berühmtesten Buch, entwickelt Ernaux einen charakteristischen Stil, durch den ihre subjektive Erfahrung zum Ausdruck eines kollektiven Schicksals der Klassen- und Geschlechtszugehörigkeit wird.
Es sind vor allem zwei Persönlichkeiten, die Ernaux’ Entwicklung beeinflusst haben: Die Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir und der Soziologe Pierre Bourdieu. Von ihnen ist auch ihr politisches Engagement inspiriert. Sie gilt als prominente Unterstützerin von Jean-Luc Mélenchon, dem heute führenden Repräsentanten der Linken in Frankreich. Immer wieder tritt Annie Ernaux aus unterschiedlichen Anlässen als öffentlich Partei ergreifende Intellektuelle hervor. Das hat ihr neben viel Anerkennung auch massive Kritik wie zum Beispiel den Vorwurf des Antisemitismus oder der Sympathie für Terroristen eingebracht. Im Vortrag sollen Aspekte ihrer literarischen Tätigkeit und ihres politischen Engagements sowie Zusammenhänge zwischen beiden Momenten behandelt werden.
Lothar Peter, Soziologe, Prof. i.R. (Universität Bremen); Veröffentlichungen u.a. über Arbeiterbewegung, soziale Bewegungen und Linke in Frankreich, marxistische Theorie ( z.B. „Marx an die Uni“, 2014), Intellektuelle und politisches Engagement.
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